Cotillon

- Ein besonderer Tanz

Was ein Tanz und seine Inszenierungen mit Christbaumschmuck zu tun haben sollen, ist sicherlich für viele auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Um die Frage zu beantworten, sei zuerst ein kleiner Rückblick in die Geschichte des Cotillons (auch mit der Schreibweise Kotillon) erlaubt.

Der Cotillon ist ein Tanz, der eine rund 300-jährige Geschichte hat.[i] So wurde er bereits um 1705 gerne am französischen Hof getanzt. Seinen Siegeszug bei Bällen trat der Cotillon jedoch erst nach dem Wiener Kongress (1814–1815) an. Ein kleine Randbemerkung sei an dieser Stelle erlaubt. Der Begriff ‚Ball‘ für eine Tanzveranstaltung wurde bereits seit dem 17. Jahrhundert verwendet. Seine sprachlichen Wurzeln liegen im französischen Verb ‚baller‘, was ‚tanzen‘ bedeutet.

Ein Ball konnte körperlich durchaus anstrengend sein. In einer Zeitschrift aus dem Jahr 1890 wurde einmal eine nicht ganz ernst gemeinte Überschlagsrechnung veröffentlicht, was ein Tänzer oder eine Tänzerin im Extremfall während eines Balls körperlich zu leisten hatte. Nach dieser Kalkulation wurde angenommen, dass eine begehrte Tänzerin, deren Tanzkarte vollständig gefüllt war, bei einem Tanz die Tanzfläche wohl zwei Mal umrunden würde. Bei einem Tanz, so wurde weiter vermutet, legten die Tanzpaare damit rund 200 m zurück. Bei angenommenen 15 Tänzen pro Stunde summierte sich die zurückgelegte Strecke auf 3.000 Meter. Nahm man nun weiter an, die Tänzerin würde über die gesamte Dauer des Balles jeden Tanz wahrnehmen, so käme sie bei sieben Stunden auf eine Gesamtstrecke von 21 Kilometer.[ii] Natürlich war dies alles rein spekulativ. Bälle sollten dem Vergnügen dienen, nicht dem Ausdauersport. Sie wurden vor allem von der Jugend herbeigesehnt. War es doch eine willkommene Ablenkung vom Alltag und für die Jugend eine Möglichkeit, sich kennenzulernen. Ältere Herrschaften folgten den Einladungen aus Höflichkeit. In einem Zeitschriftenartikel aus dem Jahre 1891 heißt es dazu:

Wir befinden uns mitten im Strudel der Gesellschaften! Von einem Ball geht’s zum andern, eine Gesellschaft löst die andere ab und überall dieselbe Physiognomie: lachende, tanzende Jugend – gelangweilt aussehende, verstohlen gähnende, ältere Herrschaften“.[iii]

Veranstaltet wurden Bälle nach dem Sommer in den kühleren Jahreszeiten. In Sachsen durften die jungen Damen nach der Konfirmation daran teilnehmen.[iv] Ein Highlight der Ballsaison waren die Masken-Bälle in der Winter- und Karnevalszeit. Teilnehmer und Teilnehmerinnen mussten allerdings mindestens 18 Jahre alt sein.

Wurde der Cotillon zunächst in einer beliebigen Phase des Balls getanzt, so wurde er seit den 1840er-Jahren am Schluss eines Balls getanzt. Dies änderte sich im Laufe der Zeit wieder. Ende des 19. Jahrhunderts wurde er als letzter Tanz vor der Pause in der Mitte des Balls veranstaltet.  Der Cotillon war nicht nur ein Tanz, sondern er brachte tiefgreifende Veränderungen der bisher geltenden gesellschaftlichen Tanzregeln mit sich. Die Rede ist von der freien Tanzpartnerwahl für Frauen. In den damals vorherrschenden gesellschaftlichen Gepflogenheiten war es den Damen eigentlich nicht gestattet, selbstständig einen Tanzpartner zu wählen. Das folgende Zitat veranschaulicht das deutlich:

Bei öffentlichen Bällen hängt die Tochter von den Eltern, die Frau vom Manne ab und diese muß ein Herr erst um Erlaubnis fragen, wenn er mit einer Dame tanzen will. Verweigert man sie ihm, so ist er nicht berechtigt, nach der Ursach [sic!] zu fragen und darf der Dame nicht verbieten, einem Andern ihre Hand zum Tanz zu reichen. Läßt eine Dame ohne Mann und ohne Eltern sich von einem Herrn zum öffentlichen Tanze führen und stellt sich unter seinen Schutz, so darf er als Beschützer fordern, daß jeder Herr, der mit der Dame tanzen will, ihn um Erlaubnis bittet, die er verweigern oder geben kann. Doch ohne Schutz darf keine Dame einem Herrn den Tanz versagen, weil es die schlimmsten Folgen für sie haben kann, und besser ist es also, wenn sie gar nicht tanzt, noch besser aber, wenn sie fein zu Hause bleibt, wie es die gesitteten Personen ziemt, so wird sie ihre Ehre unverletzt erhalten.“[v]

Beim Cotillon war diese starre Situation der patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen aufgehoben. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Damen standen oder saßen zum Beispiel in der Mitte eines Kreises. Der Vortänzer – als Organisator des Cotillons – ‚bot‘ der Dame zwei Tänzer zur Auswahl an. Sie hatte nun die freie Wahl, den einen erwählte sie zu ihrem Tanzpartner, der andere bekam einen Korb. Oftmals wortwörtlich wirklich in Form eines kleinen Körbchens. Das bekannte Sprichwort: „jemanden einen Korb geben“ kommt daher. Doch nicht nur die Damen freuten sich über die freie Wahl. Auch manch Tänzer bekam so unvermittelt die Chance mit Tanzpartnerinnen das Bein zu schwingen, deren Erlaubnisgeber es ihm vielleicht zuvor noch verweigert hätten.

Der Cotillon hatte noch einen weiteren Vorteil. Die Tanzpaare konnten dabei ungestört plaudern. Das mag uns heute seltsam vorkommen, aber die bei Bällen üblicherweise zelebrierten altfranzösischen Tänze boten den Tanzpaaren absolut keine Möglichkeit für fröhliche Gespräche. Hinzu kam die herrschende und allgemein an den europäischen Höfen und in der guten Gesellschaft akzeptierte Etikette, einen Tanz schweigend auszuführen. Wer es gewagt hätte, während eines Menuetts oder einer Gavotte mit seiner Partnerin zu sprechen, wäre mit abfälligen Blicken bestraft worden. Die anderen bei Bällen üblichen schnellen Tänze wie Gaillarde, Sarabande oder Ecossaise wurden mit körperlich anstrengenden Hüpfschritten und Kreiselbewegungen getanzt, an eine ungestörte Konversation wäre hierbei überhaupt nicht zu denken gewesen.

Wirklichen Spielraum für ein Gespräch bot daher erst der Cotillon. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Tänzer, gelangweilt durch die Steifheit und die strengen Rhythmen, von den bis dahin üblichen Hof- und Gesellschaftstänzen ab- und dem Cotillon zuwandten. Die ‚besseren‘ Kreise folgten der Entwicklung und schließlich tanzte sogar der Adel und der Hof den Cotillon. Er wurde im Laufe der Zeit zu einem gesellschaftlichen Ereignis in Adelskreisen, über das in Zeitungen berichtet wurde.[vi] Der Cotillon fand nicht nur in Deutschland begeisterte Anhänger, sondern auch im Ausland. In den USA wurde der Cotillon „The German“[vii] genannt, was darauf hindeutet, dass er von Einwanderern mitgebracht wurde.

Das Besondere an diesem Tanz, der teilweise über eine Stunde zelebriert werden konnte, war, dass nur die Anfangs- und die Schlusstour standardisiert waren, alle Tanzfiguren dazwischen wurden von dem Vortänzer beliebig ausgewählt. Dadurch wurde der Cotillon für die Tanzpaare so unterhaltsam. Der Vortänzer, ein Begriff des 19. Jahrhunderts, war bei offiziellen Bällen ein erfahrener Tänzer (Arrangeur), bei Privatbällen meist der Sohn oder die Tochter des Gastgebers. In ihren Händen lag es, die Tanzfiguren anzugeben, die beim Cotillon ausgeführt werden sollten. Diese vom Vortänzer vorgegebenen und von den Paaren nachzutanzenden Figuren bezeichnete man als Cotillon-Tour. Der Vortänzer musste nur darauf achten, dass die Tanzfiguren allgemein bekannt waren, denn wenn die Tanzpaare erst noch die Figuren lernen mussten, konnte der Cotillon schnell ermüdend werden. Ziel des Cotillons war es, ein möglichst buntes geselliges Treiben der Tanzgesellschaft zu bewirken. Die Aufgabe des Vortänzers wurde daher im Laufe der Zeit immer mehr die eines Entertainers oder Animateurs. Er musste die Tanzpaare unterhalten und dafür sorgen, dass in jeder neuen Ballsaison neue Cotillon-Touren getanzt wurden.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begannen findige Firmen damit, unterschiedlichste Requisiten für die beim Cotillon veranstalteten Touren herzustellen. So entstanden aufwendig mit Kostümierungen, kleinen Geschenken und Dekorationen inszenierte Touren, die den Ball humorvoll auflockern sollten. Die Cotillons wurden durch die Kostümierungen der Tänzer und durch die von ihnen zu verwendenden Accessoires bei den Cotillon-Touren regelrecht zu bühnenhaften Darstellungen.

Als kleine Überraschungen für ihre Gäste boten die Veranstalter bei den Cotillon-Touren Attrappen, künstliche Sträußchen, Cotillon-Orden, Knallbonbons oder ähnliche Dinge als Geschenke an.[viii] Hier schließt sich der Kreis zur Dresdner Pappe. Einige dieser Geschenke, die beim Cotillon verteilt wurden, fanden, sei es aus Erinnerungsgründen oder weil sie durch ihre Miniaturformen niedlich waren, ihren Weg an den Weihnachtsbaum und werden heute zum Sammelgebiet der Dresdner Pappe gezählt.

[i]Unfried, Hannelore: Der Cotillon – Ein Gesellschaftsspiel in Tanzform oder: Wer gibt wem den Korb?; in: Pass, Walter (Hrsg.): Bekenntnis zur österreichischen Musik in Lehre und Forschung. Eine Festschrift für Eberhard Würzl zum achtzigsten Geburtstag am 1. November 1995, Wien 1996, S. 273–320, hier S. 273.

[ii] Maruschka: Wie unterhalten wir unsere Gäste?, in: Dies Blatt gehört der Hausfrau! Zeitschrift für die Angelegenheiten des Haushaltes. VI. Jg. (1891/92), Nr. 18, S. 285.

[iii] Ebd.

[iv] B., Julie: Ball und Tanz, in: Dies Blatt gehört der Hausfrau! Zeitschrift für die Angelegenheiten des Haushaltes. IV. Jg. (1889/90), Nr. 18, S. 273.

[v] Helmke, E. D.: Neue Tanz= und Bildungsschule, Leipzig 1829, S. 97.

[vi] Wiener Salonblatt 17. Mai 1874, S. 237.

[vii]Degarmo, William B.: The Dance of Society: A Critical Analysis of All the Standard Quadrilles, Round Dances, 102 Figures of Le Cotillon („The German“) Etc.; Including Dissertations Upon Time and Its Accentuation, Carriage, Style, New York 1879.

[viii] Diese wurden unter anderem von der Firma Witte in Wien angeboten. Siehe die Werbung dazu in: Beilage zu „Kikeriki“. Humoristisches Wochenblatt, 16. Jg. (1876), Nr. 9 (30. Januar 1876).