Cotillon

- Touren

Im 19. Jahrhundert waren Tanzbälle ein beliebtes gesellschaftliches Ereignis. Im Laufe der jährlichen Ballsaison, die meist im Herbst begann und bis zum Frühling andauerte, wurden zahlreiche Tanzveranstaltungen organisiert. Der Cotillon als Tanz wurde dabei immer mehr zum Höhepunkt einer jeder Tanzgesellschaft. Das lag vor allem daran, dass er für die Tänzer und Tänzerinnen unterhaltsam gestaltet wurde. Die Vortänzer präsentierten ihren Gästen aus verschiedenen Tanzfiguren sogenannte Cotillon-Touren, die es nachzutanzen galt. Das Ganze sollte dabei mit viel Spaß und Unbeschwertheit vonstattengehen. Gelächter und kleine Neckereien unter den Anwesenden waren geradezu gewollt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Touren als „höchst ulkig“, „höchst effektvoll“, „höchst originell“, „heiteres fideles Gepräge“, „brillanter Effekt“, „sehr komisch“, „grossartiger Effekt“, „sehr lebendige Tour“, „unterhaltend und spaßhaft“, „erheiternd“, „interessant und komisch“ beschrieben wurden.

Requisiten für Cotillon-Touren

‚Füße‘ aus Karton, die die Männer spaßeshalber beim Tanzen über die Schuhe ziehen mussten.

Ungefähr im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen erste Hersteller damit, für die Cotillon-Touren eigene dazugehörige Requisiten zu entwickeln. Die bei den Touren verwendeten Gegenstände konnten im Anschluss von den Teilnehmern behalten werden. Sie ergänzten damit eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Mode gekommene Tradition, dass die Veranstalter den Besucherinnen kleine Erinnerungsgeschenke an den jeweiligen Ball machten.

Um es den Veranstaltern der Bälle leichter zu machen, boten Hersteller fix und fertig konzipierte Cotillon-Touren mit dazugehörigen Anweisungen, Dekorationen, Masken und Kostümen zum Kauf an.

Dresdner Pappe im Rahmen von Cotillon-Touren

Sie fragen sich nun vielleicht, was Cotillon-Touren eigentlich mit Dresdner Pappe zu tun haben. Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich anhand eines Beispiels erklären, wie Cotillon-Touren funktionierten. Das von mir ausgewählte Beispiel wurde im Jahr 1888 von der Erfurter Firma N. L. Chrestensen angeboten. Das Besondere daran war, dass Schwalben aus Dresdner Pappe dabei Verwendung fanden.

Die Tour für sechs Tanzpaare hatte den Namen ‚Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n‘. Die zuvor aus den Gästen ausgewählten Damen erhielten „6 feine Schwalben-Attrappen, die Herren Kopfbedeckungen, Mauerkronen darstellend.“[i] Jede Schwalbe hatte ein Bändchen mit den Namen einer Stadt in Afrika (wie Tunis, Algier oder Kairo) um den Hals. Die Herren setzten dann die ihnen ausgehändigten Mützen auf, auf dem jeweils ein passender Städtename vermerkt war. Die Paare, deren Städtenamen übereinstimmten, tanzten zusammen.

Seite aus dem im Jahr 1888 herausgegebenen Katalog der Firma Chrestensen

Am Beispiel der auf dem Blatt abgebildeten Touren kann man gut erkennen, dass bei den Inszenierungen der anderen Touren ebenfalls Attrappen (Tabakspfeifen, kleine Flaschen, Gold- und Silberfische) verwendet wurden.

Die auf der Illustration beschriebenen Touren gehörten noch zu den sehr kurzen Cotillon-Touren. Diese wurden im Laufe der Zeit immer ausgeklügelter, man kann fast sagen, sie wurden regelrecht inszeniert. Die umfangreichen Cotillon-Touren mit Dutzenden von Paaren glichen fast kleinen Theateraufführungen. Beliebt waren auch Touren, bei denen die Teilnehmer sich mitunter grotesk verkleiden mussten.

Neben den fertig zu kaufenden Cotillon-Touren boten die Hersteller in ihren Katalogen auch separat die unterschiedlichsten Gegenstände an, damit die Veranstalter selbst daraus eigene Inszenierung kreieren oder sie einfach den Feiernden als kleine Erinnerungsgeschenke offerieren konnten. Die Cotillon-Geschenke wurden von den Gästen gerne mit nach Hause genommen, um sie an einen gelungenen und ausgelassenen Ball zu erinnern. Sicherlich trug auch die Erinnerungen an so manchen Tanzpartner dazu bei, dass die Geschenke, wie die Attrappen oder Cotillon-Orden, behalten wurden.

Werbung der Firma Chrestensen aus dem Jahr 1880/81.

Hersteller für Cotillon Requisiten

Die Zahl der Hersteller, die Gegenstände für den Cotillon oder als allgemeine Ballgeschenke anfertigten, wuchs im Laufe der Zeit stetig an. Eine der größten diesbezüglichen Firmen war, nach eigenen Angaben, die Firma Gelbke & Benedictus in Dresden. Im Jahr 1912 gab es in Deutschland rund 100 und in Österreich 13 Firmen, die sich auf die Herstellung von Cotillon-Touren und -Gegenständen spezialisiert hatten. Für die meisten Firmen war die Produktion von Cotillon-Gegenständen nur ein Bestandteil ihrer großen Produktpalette. Sie stellten unter anderem auch Attrappen, Karnevals-Gegenstände und -Kostüme, Knallbonbons mit diversen Einlagen, Kopfbedeckungen aller Art, Masken, Papierlaternen, Saaldekorationen, Schärpen, Tischkarten und vieles mehr her.

Die Produzenten versuchten, mit immer ausgefalleneren Stücken auf ihr Angebot aufmerksam zu machen. Das bezog sich nicht nur auf die Gegenstände für den Cotillon selbst, sondern auch auf deren Präsentation. Die Dresdner Firma Neumann & Co. bot zum Beispiel große ‚Decorations-Pracht-Stücke‘ wie Tafeln, Schiffe oder Elefanten zum Ausleihen an.

Zwei Dekorations-Prachtobjekte von Neumann & Co. für den Cotillon aus dem Jahr 1888/89.

Die Gegenstände waren teilweise bis zu 3 m hoch und 2,5 m breit. Da die Stücke groß und sperrig waren, konnte man hilfsweise eine mit dem Aufbau und Bedienung vertraute Person dazu buchen. Auf solchen Objekten wurden dann Papiermützen, Orden, Attrappen, Knallbonbons, künstliche Blumen oder andere Stücke präsentiert.

Cotillon-Touren unter einem Motto

Um 1890 kam bei den Cotillon-Touren die Mode auf, die Tanzbälle unter ein Motto zu stellen. Die Hersteller versuchten, ihre Cotillon-Arrangements schnell den neuen Anforderungen anzupassen. Es wurden extra bemalte und bedruckte Hintergründe bis zu einer Länge von 9 Metern aus Papier hierfür gefertigt. Die Dekorationen wurden je nach Wunsch der Kunden gestaltet. So wurden die Tänzerinnen und Tänzer beispielsweise szenisch in die Alpen, ans Meer, auf eine Blumenwiese oder auf einen Kriegsschauplatz versetzt. Die Dekoration, wie Kostüme, Hüte und Miniatur-Attrappen wurden extra hierfür angepasst. Ein Beispiel für so eine Tour war der ‚Zukunftskrieg‘. Sie wurde wie folgt zelebriert:

Wie sich die Soldaten gegen die Angriffe aus den Luftschiffen schützen werden, ist auf den 6 Papiersäcken, welche 6 Herren erhalten, in humoristischer Weise dargestellt; 6 Damen empfangen kleine Luftschiffe; nachdem das Publikum die neue, hochwichtige Erfindung genügend bewundert hat, zerreißen die Damen die Papiersäcke und tanzen mit dem betreffenden Herren. Die Farben führen die Paare zusammen“.

Sehr beliebt waren auch die Zeppelin-Touren, die ebenfalls sehr aufwendig inszeniert wurden.

Touren und Dekorationsstücke verschiedener Anbieter um das Jahr 1910.

Bei Zeppelin-Touren waren kleine aus Pappe geprägte Zeppelin-Attrappen oftmals Bestandteil des Ablaufs. Diese Zeppeline, ob in der kleinen oder in der etwas größeren Variante, werden heute von uns Sammlern zur Dresdner Pappe gezählt. Ich hoffe, dass durch die wenigen bis jetzt von mir genannten Beispiele ersichtlich wird, dass viele Attrappen aus Pappe, die wir heute zum Dresdner Pappe Christbaumschmuck zählen, ursprünglich nichts anderes waren als Bestandteile und Geschenke für Cotillon-Touren. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich noch ein paar weitere Beispiele anführen.

Es gab damals Cotillon-Touren für deren Inszenierung verschiedene aus Pappe geprägte Monde und Sonnen benötigt wurden. Diese Stücke werden heutzutage von manchen Sammlerinnen und Sammlern ebenfalls zur Dresdner Pappe hinzugezählt. Meist wird bei ihnen der Hinweis gemacht, sie seien ‚halbplastisch‘, weil sie nur eine geprägte Vorderseite haben. Die Rückseite fehlt vermeintlich. Das stimmt jedoch nicht. Die Stücke hatten immer nur eine Vorderseite.

Hergestellt wurden die Stücke von Kunze & Co. im sächsischen Buchholz. Die 1872 gegründete Firma Kunze war unter anderem Speziallist für flach und hochgeprägte Sargverzierungen, Cotillon-Orden und aus Pappe gefertigte Wandkalender.

Der erfolgreiche Verkauf von Cotillon-Touren war aber für die Hersteller durchaus zweischneidig. Wenn viele Veranstalter in einer Saison die gleichen Touren kauften, dann wurden sie im nächsten Jahr nicht mehr nachgefragt, weil das anspruchsvolle Tanzpublikum jedes Jahr mit neuen Touren unterhalten werden wollte.

Dadurch entstand vor allem für kleinere Produzenten die Situation, dass sie es sich nicht leisten konnten, jedes Jahr unzählige neue Cotillon-Touren zu entwerfen und auf den Markt zu bringen. Um das Problem zu umgehen, wurden Touren von anderen Herstellern in den eigenen Katalogen mit angeboten. So kam es, dass manche Cotillon-Tour und die dazu verwendeten Dekorationselemente in den verschiedenen Hersteller-Katalogen entweder identisch waren oder sich stark ähnelten.

Ende der Cotillon-Touren Zeit

Kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges endeten die Tanzveranstaltungen in Deutschland. Es war in Kriegszeiten nicht angebracht, fröhliche gesellschaftliche Tanzbälle zu geben, während in den Schützengräber die Männer, Söhne und Freunde den Tod fanden. So sah dies auch die Regierung, weshalb während der Dauer des Krieges ein allgemeines Tanzverbot in Deutschland eingeführt wurde. Das offizielle Tanzverbot fiel erst zu Silvester 1918. Der Jahreswechsel und die neue Tanzfreiheit wurden ausgiebig gefeiert. In dieser Nacht wurde in Berlin so viel wie noch nie und so rasend wie noch nie getanzt.[ii] So berichtete jedenfalls das Berliner Tageblatt in seiner Neujahrsausgabe 1919. Die Tänze, die nun getanzt wurden, waren neben dem Walzer der Tango und die ‚wilden‘ Tänze aus Amerika, wie der Shimmy, der Charleston und der Black Bottom. Getanzt wurden sie in den großen Städten in Tanz- und auf dem Land in Vereinslokalen. Große Bälle mit den klassischen Tänzen, die früher die Regel waren, wurden nun zur Randerscheinung. Waren auf den Bällen im Kaiserreich die Cotillon-Touren stets ein fester und beliebter Bestandteil, so wurden sie nach 1918 zu einem unbedeutenden Beiwerk bei Tanzveranstaltungen degradiert. Anfänglich konnten sie sich, jedoch nur noch in einem sehr kleinen Maßstab, halten, wobei sich jedoch der Name etwas änderte. Aus den Cotillon-Touren wurden im Laufe der Zeit Tanz-Touren, die unter anderem bei Karnevalsbällen Verwendung fanden. Eine Verbreitung wie im Kaiserreich sollten die Touren nie mehr erreichen.

Werbung für Tanz-Touren aus dem Jahr 1939.

Als Resümee kann man sagen, dass die bei Tanzveranstaltungen im deutschen Kaiserreich so beliebten Cotillon-Toren fast 40 Jahre lang mehr oder weniger intensiv zelebriert wurden. Während dieser Zeit wurden zahlreiche feingeprägte Attrappen und Bonbonnieren aus Karton beziehungsweise Pappe hergestellt. Wenn wir von vielen Dresdner Pappe Stücken auch den ursprünglichen Zweck, warum sie hergestellt wurden, nicht mehr kennen, ob als Attrappen für Cotillon-Touren, Bonbonnieren, Geschenke oder als Christbaumschmuck, so lassen sie unser Sammlerherz dennoch heute höherschlagen. Letztendlich ist es egal, warum ein Dresdner Pappe Objekt produziert wurde. Die Schönheit des Stückes mit seiner feinen Prägung und der teilweise komplexen Ausführung ist ausschlaggebend.

[i] N. L. Chrestensen, Erfurt: Preisliste Ball= und Cotillon=Gegenstände 1888, Tour No. 264, S. 29.

[ii] Berliner Tageblatt, Jg. 1919, Nr. 1, 1. Beiblatt (Mittwoch, 1. Januar 1919).